Der Palatin beginnt, in meiner Vorstellungswelt zu entstehen. Erste Erkenntnis: Die auf dem Screenshot von Google Street View zu sehenden Gerüste rühren tatsächlich von Arbeiten an antiken Stützmauern her. Dabei dürfte sich um die handeln, hinter denen oben auf dem Hügel die Domus Tiberiana stand - wie ich bereits vermutet habe.
Der zweite Aufsatz in den Kaiserpalästen ist tatsächlich schwer zu lesen, wenn man die Geographie des Ortes nicht kennt. Dafür kann man aber viel darüber erfahren, wenn man sich damit auseinandersetzt. Das gilt sowohl für die antiken Bauten selbst wie für die Sitten und die Bedeutung, die die Römer über die Zeiten mit dem Ort verbanden.
Auf Basis der Angaben von Patrizio Pensabene in Das Heiligtum der Kybele und die Untergeschossbauten im Südwesten des Palatin (Kaiserpaläste, S. 18-31) und der dort abgedruckten Fundkarten habe ich versucht, die Gebäude in einem Foto des Modells von Italo Gismondi, das wohl im Stadtrömischen Museum steht und das auf Flickr zu finden ist, zu kennzeichnen.
Die dunkelgrünen Striche stellen den von mir vermuteten Verlauf der beiden Aufgänge an dieser Seite des Palatin dar: des Clivus Victoriae, der sich vom Velabrum kommend an der Seite des Abhang hinaufschlängelte, und der Scalae Caci, in die dieser Clivus mündete, wo eine Hütte als Haus der Romulus verehrt wurde, und an deren Anfang am Fuß des Hügels wohl das Lupercal zu suchen ist.
Was mir nicht bewusst war, ist die Bedeutung, die diese Ecke des Palatin auch schon in republikanischer Zeit für die Römer gehabt haben muss. Er wurde laut Pensabene im späten 4. Jhd. vuz "grandios" umgebaut. Er erklärt diesen "Entwicklungsschub ... vielleicht mit dem Wunsch", den Palatin
"nach dem Athener Vorbild zu einer Akropolis auszubauen - der Victoria-Tempel, das 'Haus des Romulus' und das Lupercal wiederholen die Organisation der Akropolis und ihrer Abgänge mir dem Parthenon, dem Erechteion und dem Lykeion".
Das spiegelt demnach die Entwicklung der Republik zu einer Mittelmacht wider, die sich nach der Unterwerfung Mittelitaliens gegen die hellenistischen Griechen im Süden der Halbinsel und im östlichen Mittelmeer sowie Karthago im westlichen Mittelmeer behaupten muss. Das begründet Pensabene mit zwei religiösen Entwicklungen: zunächst der stärkeren Verehrung der Victoria als eigenständiger Göttin, dann mit der Einführung des Kybele-Kultus.
Zum Victoria-Tempel schreibt Pensabene unter Berufung auf Titus Livius (X, 33), dass er 294 vuz von Lucius Postumius Megellus eingeweiht worden sei. Der Kult sei zwar offenbar nur erneuert worden. Der Bau zeige aber, dass er wegen der "Geschehnisse (...) um Romulus" - er meint offenbar dessen Sieg über seinen Bruder Remus - und vor allem wegen des Sieges der Römer im Samnitenkrieg sowie der Eroberungen in Süditalien gegen Ende des 4. und Beginn des 3. Jhds. vuz die Verehrung der Siegesgöttin an Bedeutung gewonnen habe. Auch dürfe nicht der nicht lange zurückliegende Welteroberungsfeldzug Alexanders des Großen nicht vergessen werden. Die "Theologie der Victoria" sei in Rom
"unter den gleichen Bedingungen wie bei den hellenistischen Monarchien gefördert (worden), das heißt durch die Umwälzungen einer neuen politischen Ordnung und durch die religiöse Rechtfertigung territorialer Expansion, in deren Folge der Sieg in den Rang einer neuen Gottheit aufstieg". (Kaiserpaläste, S. 20-21)
Für den Tempelbau begannen die Römer Pensabene zufolge mit der Errichtung von Substruktionen, wohl um das Gebäude gegen ein mögliches Abrutschen am Hang zu stabilisieren. Diese Substruktionen überwölbten demnach bereits den Clivus Victoriae. Die unterirdischen Räume waren offenbar zugänglich und wurden wohl auch genutzt. Die alte Straße sei im Zuge dessen leicht verlegt worden.
Augustus habe der Göttin Victoria später noch einmal eine stärkere Wertschätzung zukommen lassen - nicht zuletzt, weil der Geburtstag des Tempels auf den 1. August fiel. Das ist der Tag seines Sieges in der Seeschlacht von Actium 30 vuz und seines Einzugs in Alexandreia nach der Niederlage und dem Selbstmord Marcus Antonius'. Bezeichnenderweise nahm er diesen Monat, um ihn nach sich zu benennen, und setzte den ersten Tag auch als dies natalis des Tempels des Mars Ultor auf seinem neuen Forum fest. Das war immerhin der Bau, mit dem er den Tod der Cäsar-Mörder feierte, und in dem einer Legende nach dessen Schwert aufbewahrt worden sein soll.
Der Kult der Kybele kam 204/205 vuz aus Pessinus in Kleinasien nach Rom, wo die Göttermutter Magna Mater genannt wurde. Die Stadt war in Aufregung: Niemand wusste, was der in Italien eingefallene Hannibal vorhatte. In der Not zogen die Römer ihre Sybillinischen Bücher zu Rate - auch das Apollon-Orakel von Delphi soll seine legendäre Rolle gespielt haben. Das Ergebnis: Eine Delegation schaffte einen schwarzen Meteoriten in die Stadt, Hannibal unterlag den Römern (Kaiserpaläste, S. 22).
Der Kult wurde offenbar seht beliebt, obwohl er eingangs eher reichen Familien diente, ihren Einfluss auf die Außenpolitik zu untermauern, etwa den Scipio in Person des Scipio Nasica. Das alles geschah
"ungeachtet der kultischen Aspekte mit orientalischer Tradition, wie die Musik, der Tanz oder die rituelle Kastrationm, der sich eine bestimmte Gruppe von Kultdienern (die galli) zu unterwerfen hatten, die nach römischer Vorstellung für unrein gehalten wurden". (Kaiserpaläste, S. 22)
Vor allem die Megalensischen Spiele zu Ehren der Magna Mater dürften traditionellen Römern zunächst sauer aufgestoßen sein. Schließlich gehörten "zeremonielle Festbankette und die Theateraufführungen" im Rahmen der sogenannte Megalensischen Spiele [...] nicht unbedingt zu ihrer Vorstellung von Römertum. Bis kurz vorher waren Theatersspiele sogar noch komplett untersagt worden - da kein Gebäude dafür vorhanden war, nahm man den durch die Substruktionen vergrößerten Platz vor dem Kybele-Tempel. Und auf diesem Platz führten auch die Korybanten, die bewaffneten Ehrentänzer der Kybele, und die alten Tanzpriester der Salii aus der Curia Saliorum - möglicherweise das spätere Haus der Livia - ihren komplizierten Tanz auf.
Dieser Platz hatte also enorme sakrale Bedeutung für die Römer. Einen so hohen Stellenwert in der Religion hatte ich bislang nur dem Kapitol zugemessen. Dort wurden schließlich die drei Hauptgottheiten - Gottvater Jupiter, Matrone Iuno und Athena-Minerva - verehrt. Allerdings habe ich mit deren Kult nicht eingängig beschäftigt. Wahrscheinlich hat im Alltag eines Großteils des Volks ohnehin die Plebejer-Weihestätte der Ceres, des Liber und der Libera (also Demeter, Bakchos und Kore) direkt im Tal dem Palatin gegenüber zwischen dem Circus Maximus und dem Aventin eine größere Rolle gespielt. Ich muss mich mit diesem Aspekt noch einmal beschäftigen.
Klarer wird, warum Augustus diesen Platz, der seinerzeit mit den Stadthäusern vieler reicher Römer bebaut gewesen sein muss - vgl. das erste Kapitel der Kaiserpaläste, das sich mit der Entwicklung dieser Liegenschaft befasst - als sein Domizil ausgesucht hat. Denn wer hinaufstieg, musste an den bedeutendsten Heiligtümern des vergöttlichten Stadtgründers vorbei. Augustus stellte sich damit in eine Reihe mit ihm - auch hier versucht er offenbar, als legitimer Nachfolger des Romulus zu erscheinen. Der Tempel seines persönlichen Schutzgottes, des Apollon, dürfte diesen Eindruck für den Besucher noch verstärkt haben.
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